Die Daïsha Stanza, eine Legende aus der Zeit der Herrschaft des Großen Weisen Lin Cho¶
Über die Entstehung der Bernsteinwürfel, niedergeschrieben von einem anonymen Chronisten aus Zoraï¶
Zu der Zeit, in der die Zoraï von dem Großen Weisen Lin Cho geführt wurden, unternahmen die Fyros einen Überfall auf Zoran, die alte Hauptstadt. Nachdem die Fyros zurückgeschlagen werden konnten, wurde die Große Mauer erweitert, um alle Grenzen zu den Gebieten der Barbaren zu schließen. Die Stadt selbst hatte durch Ihre beeindruckenden Wachtürme nur wenig Schaden erlitten.
Dennoch traf dieser Angriff die Kultur der Zoraï mitten in Ihr Herz.
In der Nationalbibliothek war ein großes Feuer ausgebrochen. Hier wurde die Geschichte von Jahrhunderten, aufgezeichnet auf Mektoubpergament, bewahrt.
Den Weisen wurde so die Last und Zerbrechlichkeit ihres Wissens schmerzlich vor Augen geführt.
Sie blieben jedoch nicht untätig.
Die besten Magier unter ihnen versammelten sich und brachten einen Spruch hervor, welcher den Inhalt vieler Pergamente in einer Sphäre komprimieren konnte.
Von nun an war es möglich größere Mengen an Informationen leichter zu transportieren. Aber es gab auch einen Nachteil. Die neue Stanza erzeugte zwar Sphären mit einem hohen Informationsgehalt, deren Haltbarkeit war jedoch stark beschränkt.
Es wurden also Behälter benötigt, um die Sphären vor dem Zahn der Zeit und zukünftigen Feuern zu schützen.
Auf Lin Chos Anweisung hin wurde im ganzen Land ein Wettbewerb ausgeschrieben. Die besten Handwerksmeister sollten ein Behältnis kreiren, in dem das gesammelte Wissen der Zoraï für Jahrhunderte sicher aufbewahrt werden konnte.
Als der Tag der Entscheidung nahte, trafen die besten Handwerker aus vielen Dörfern und Städten des Landes in dem Dorf Taï-Toon ein.
Hier sollte die neue Bibliothek gebaut werden. Jederman konnte fast fünfzig Meister und ihre Lehrlinge dabei beobachten, wie sie unter viel Aufhebens und Trubel die letzten Handgriffe an Ihre fantastischen Kreationen legten.
Es gab magische Kisten, fein ziseliert, Urnen und Krüge in allen Formen, Farben und Größen, um die Sphären des Wissens zu speichern.
Ein junger Handwerker namens Hari Daïsha, aus dem abgelegenen Dorf Tin-Din, wählte für sein Gefäß einen eher rustikalen Stil. Er höhlte Bodochörner aus, um darin je bis zu fünf Sphären des Wissens unterzubringen.
Am Tag vor dem großen Tag der Wahl, saß er vor seinem Zelt und brachte eine abschließende Schicht seiner selbst hergestellten Feuerschutzpolitur auf die Hörner auf.
Ein renommierter Handwerker aus Zoran blieb stehen und sprach ihn amüsiert an:
"Was ist denn das, Yama?* (*Junger Homin) Das Quartier der Musiker ist doch bei den Ausstellungsständen, in der Nähe des Podiums!"
"Nein, nein, Meister Seng, dieses Horn ist mein Beitrag zu dem Wettbewerb! Schaut nur, es kann mit dieser Klappe wasserdicht verschlossen werden, ist feuerfest und kann vor allem leicht versteckt werden, sollten uns wieder Barbaren überfallen."
"Erstaunlich! Ein Haufen Bodochörner, wie trügerisch!" spaßte Seng, der dem jungen Handwerker seine schwere Hand auf die Schulter legte. "Hört auf meinen Rat, die Weisen schätzen eine gute Präsentation. Wenn Ihr also wollt, daß sie Euren Anstrengungen Aufmerksamkeit zollen, solltet Ihr die rauhe Schale etwas verfeinern."
Damit kehrte Seng stolz zu seinem eigenen Zelt zurück, in dem einer wundervollen Truhe aus Bernstein den letzten Schliff gab.
Der junge Zoraï blickte auf seine einfachen Bodochörner. "Mmm, der alte Seng wird schon recht haben, die Weisen müssen morgen so viele Beiträge begutachten und ihr Urteil wird öffentlich vor der großen Versammlung vorgetragen. Ahh, ich könnte noch etwas Glanz anbringen, damit sie besser auffallen. Bernstein kann ich mir zwar keinen leisten, aber am Fluß dort drüben gibt es sicher das richtige Sap für mein Vorhaben... "
Die Nacht brach bereits hinein, als sich Hari wieder niederließ, um seine langwierige Aufgabe zu beginnen. Er wollte das Sap zu einem festen Brei einkochen. Damit könnte er dann die Behälter einschmieren. Diese würden dann einen feinen grünen Glanz annehmen.
Sengs Hänseleien wurmten ihn aber immer noch und die Glühwürmchen die von der Lampe an seinem Arbeitsplatz angezogen wurden trugen ihren Teil dazu bei ihn weiter zu ärgern.
"Verschwinde, bevor ich dich verbruzel!" knurrte Hari ein besonders lästiges Exemplar an, dass sich nicht davon abbringen ließ direkt vor seinen Augen herumzutanzen.
Aber das Glühwürmchen schien entschlossen, sich mit ihm anzulegen und ließ sich auch nicht von seinen klebrigen Sap-Fingern verjagen.
"Es reicht! Du hast es so gewollt!" Hari nahm ein Klümpchen Sap, rollte es zu einer Kugel und schleuderte dem Insekt den erstbesten Spruch entgegen, der ihm in den Sinn kam.
Es war ein Binde-Spruch und das kleine Insekt fiel in seinem ewigen Gefängnis schnurstraks zu Boden "Wah ...! Seht euch das an, ich habe es in Sap gebunden!"
Als er die kleine, grünlich schimmernde und durchscheinende Sapkugel aufnahm, konnte er im Flammenschein die zarte Anatomie des Tieres bestaunen. Er sah die Schönheit der Flügel, die im Gegenlicht besonders zur Geltung kamen und so detailreich wohl von keinem Homin zuvor gesehen werden konnten.
"Jeder Weise würde mir seine Stanza-Sammlung dafür geben", dachte Hari - und hatte sofort die nächste Idee.
Die ganze Nacht übte er nun die Glühwürmchen in Sap zu binden und den Spruch wieder umzukehren, um die perfekte Abfolge der Worte der Macht zu finden, bis schließlich in den frühen Morgenstunden ein Glühwürmchen sein Gefängnis komplett unversehrt wieder verlassen konnte.
Früh am nächsten Morgen war der von den Wettbewerbsteilnehmern ausgehende Lärm weithin hörbar. Sie machten sich nun alle auf um Ihre Kunstwerke zum Ausstellungsplatz zu transportieren. Bald schon blieb nur die Stille der leeren Zelte zurück. Sie alle waren Leer, außer dem, in welchem Hari erschöpft von einer Nacht harter Arbeit und benebelt von den Sapdämpfen in einen tiefen Schlaf gefallen war.
Erst der ferne Klang der Hörner weckte ihn schlagartig auf. Die Preisrichter hatten eine Entscheidung getroffen! Hari riß die Augen auf und stürmte sofort mit seinen Sapperlen in der Hand zum Podium.
Kein anderer als Meister Seng präsentierte dort für alle sichtbar stolz seine Schöpfung. "Bernstein" tönte Meister Seng "wird ewig halten, und diese Truhe wird all Ihrem Inhalt ewigen Schutz bieten."
Er wandte sich dann, nach alter Tradition, dem Weisen zu, um seine Siegesmedaille in Empfang zu nehmen.
"Meister Seng", begann der große Weise mit feierlicher Stimme. - "Mit tiefer Freude ..."
"Wartet!", keuchte Hari und quetschte sich durch die Zuschauer um nach vorne ans Podium zu gelangen. - "Hochverehrter, meine Arbeit muß erst noch beurteilt werden ..."
"Was soll das? Schweig still, der Sieger wurde gewählt ...", erwiderte der Weise.
"Wenn Ihr erlaubt, verehrter Weiser.", unterbrach Seng flüsternd und beugte sich zum Weisen. - "Ich kenne diesen jungen Homin, er hat einen ungewöhnlichen Verstand. Ob es der eines Verrückten oder der eines Genies ist, wird sich noch herausstellen.... Ihn nun zu entmutigen, wäre, wie einen Paradiesvogel im Ei zu töten."
"Nun gut, Seng, das klingt einleuchtend. Es braucht alle Arten von Dingen für eine ganze Welt." stimmte der Weise zu und gab Hari ein Zeichen seine Arbeit zu präsentieren.
Hari brachte die in seinem Bodochorn verstaute Sapperle zum Vorschein und hielt sie gegen die Sonne, damit alle Umstehenden sie sehen konnten. Der Weise musterte das in Sap gefangene Glühwürmchen nicht ohne Bewunderung.
"Interessant ..."
"Dies ist ein neuer Weg allerlei Dinge zu erhalten, Hochverehrter." Mit den rechten Handbewegungen und Worten führte Hari nun die Umkehrung aus und inmitten von "Ohhhs" und "Ahhhhs" der Zuschauer flog das Glühwürmchen unbehelligt davon. - "Gibt es etwas Empfindlicheres als ein Glühwürmchen?"
"Sehr interessant", stimmte der Weise zu, "aber Sap löst sich auf im ersten Regentropfen, vom Zahn der Zeit ganz zu schweigen!"
"Aber Bernstein nicht", fiel Meister Seng ein und reichte Hari seine schöne Schöpfung mit der einen und eine Sphäre mit der anderen Hand. "Kommt, Yama, nehmt davon den Bernstein den Ihr braucht und zeigt uns, was Eure Stanza mit dieser Sphäre des Wissens tun kann. Wenn Ihr Erfolg habt, könnt Ihr mir das Material mit Eurem Gewinn zurückzahlen!", lachte der berühmte Handwerker.
Im Nu löste Hari einen kleinen Teil des Bernsteins aus der Truhe und benutzte Ihn, um die Sphäre der Erkenntnis darin zu versiegeln. Die Menge schrie und applaudierte vor Begeisterung, als der Weise den Arm des jungen Homins zum Zeichen des Sieges hob.
Die Bernsteinkugeln wurden im Laufe der Zeit zu Würfeln weiterentwickelt um sie besser lagern zu können.
Und Seng hatte, nebenbei bemerkt, die erste Truhe der Weisheit erschaffen, um die Bernsteinwürfel aufzubewahren.
Der Ältestenrat fügte später noch ein spezielles Siegel in die Bindung ein, um sicherzustellen, dass nur Initaten der wertvolle Inhalt zugänglich sei.
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